Mit 11 über die Grenze in die BRD

von Alea Giese und Jael Seeger (8c)

„Zu unserem Onkel nach Ost­berlin.“ Das waren die Worte, die Gudrun Weiblen zu dem Beamten sagt, als dieser fragt, wohin sie, ihre beiden Ge­schwister und ihre Mutter unterwegs sind.

Berliner Mauer an der Bernauer Straße (Wikimedia Commons)

Zum Ende des Februars 1953 be­ginnt der Schnee zu tauen und Hoffnung liegt in der Luft. Hoffnung, dass es die kleine Familie über die Grenze in die BRD schaffen würde. Doch sie sind auch angespannt. Wird der Beamte merken, was sie vorhaben? Werden sie nach Sibirien verschleppt werden? Das waren Ängs­te, die die damals 11-Jährige Gudrun hat, als die vier bisher noch unentdeckt in den Zug in die Freiheit steigen. Der Kessel beginnt zu dampfen und die Wärme im Inneren des Zuges umhüllt das Mädchen wie eine Decke.

Rückblick: 1941 hört man die lauten Schreie von Gudrun und ihrer Mutter, was eine große Erleichterung be­deutet, denn fast wären Mutter und Tochter bei der Geburt ver­storben. „Meine Geburt war das ers­te Wunder in meinem Leben”, sagt die 82-Jährige nachträglich über diesen Tag. In den ersten drei Jahren ihres Lebens tobt der 2.Weltkrieg. Erleichtert berichtet sie, dass über ihrem Dorf, obwohl sie oft in den Luft­schutzkeller hinabsteigen muss­ten, keine Bomben abge­worfen wurden. 1945 wird Deutsch­land nach seiner Niederlage geteilt und die damals Dreijährige lebt fortan mit ihren Eltern, dem großen Bru­der Jürgen und der kleinen Schwes­ter Christel in der DDR. Dort besitzen sie einen land­wirt­schaftlichen Betrieb, durch den sie für diese Zeit ziemlich wohlhabend sind, sodass sie sich sogar einige Angestellte leisten können, was der jungen Familie später noch das Leben retten soll.
„Warum bin ich ein Freund der Sowjetunion?” Diese Frage soll das junge Mädchen in der dritten Klasse mithilfe eines Aufsatzes beant­wor­ten. Leicht verwirrt geht Gudrun da­mit zu ihren Eltern und sagt ganz ehrlich: „Aber ich bin doch gar kein Freund der Sowjetunion.“ Auf diese Aussage hin erschrecken die Eltern und trichtern dem Mädchen von dort an ein so etwas niemals mehr laut zu sagen, denn es würde nichts Gutes für die Familie bedeuten. Das ist Gudruns erste Berührung mit Propaganda, aber garantiert nicht die Letzte. „Die ganze Schulzeit über spürte ich diesen Druck von außen, der zur Vorsicht mahnte“, erzählt sie über ihre Kindheit. Für viele Kinder in dieser Zeit haben sich die Russen als alte Feinde der Kriegszeit eingebrannt, was es nicht leichter machte, der Propaganda in diesen jungen Jahren standzuhalten. Bis heute hat sie bei Worten wie Russen, Sowjetunion und Sibirien ein flaues Gefühl im Magen. Es war keine einfache Zeit für Gudrun. Sie wird immer schüchterner und ängstlich, sodass das Mädchen am Ende gar nicht mehr weiß, was es denken oder sagen darf.  

Im Alter von fast 57 Jahren stirbt Gudruns Vater, zu dem sie ein kompliziertes Verhältnis hat, auf­grund von zwei Schlaganfällen. „Ich habe ihn sehr geliebt und zu ihm aufgesehen, aber ein echtes Vertrauensverhältnis habe ich nicht zu ihm aufgebaut.“ Zu ihrer Mutter sei das Verhältnis besser gewesen, aber da diese sich sehr um das Ansehen der Familie gesorgt habe, hörte das Mädchen oft Sätze wie: „Das sagt man nicht! Das tut man nicht! Wie hast du dich wieder benommen?“ Das erhöht den Druck auf die damals Neunjährige. Die Mutter hat immer viel zu tun, doch wenn Gudrun dann mal krank ist, wird sie stark von ihr umsorgt, sodass sie sich noch gut an Lieder wie „Müde bin ich geh zur Ruh...“ erinnert, die ihr Trost spen­den. Sie erzählt auch von ihrem kindlichen Glauben, der sie dazu bringt, jede Nacht mit gefalteten Händen und einem Gebet auf den Lippen einzuschlafen. Dieses Ritual begleitet die 82-Jährige bis heute.

Die Situation in der DDR spitzt sich immer mehr zu und plötzlich zählt die kleine Familie im Arbeiter- und Bauernstaat zur Klasse der Kapitalisten und das Leben wird immer schwerer. Das Hab und Gut mitsamt der Maschinen wird be­schlagnahmt und „als sei dem nicht genug, wurde außerdem ein Teil unserer Wohnung requiriert und ein junger Polizist mit seiner Familie dort einquartiert“, berichtet Gudrun. Im Winter 52/53 wächst die Entschlossenheit, der Zwangs­um­sied­lung zu entgehen. Dafür müssen sie in den Westen fliehen. Über das westliche Radio RIAS hört die Familie, dass ein Grenz­über­gang nur noch in Berlin möglich ist. Wenig später ergreifen sie die Chance tatsächlich und sitzen in ei­nem Zug Richtung Ostberlin. Die Vier sind vorbereitet, denn alle erzählen die gleiche Geschichte, ihren Onkel in Ostberlin zu be­suchen.

Als die Sonne noch nicht über den Horizont blickt, erreichen sie ihr Zwischenziel. Bis sie die Fahrkarten der S-Bahn, die bis zum Grenzübergang fährt, lösen, läuft alles so wie geplant. Im sonst so überfüllten Berlin und der S-Bahn sind wenige Menschen auf den Straßen, denn die meisten liegen noch gemütlich in ihren Betten. Die Kinder legen sich aufgeregt an die Fenster der Bahn, denn sie sind erschöpft von der langen Nacht. Den Ernst hat nun auch die jüngste Schwester begriffen, denn sie merken alle, wie still ihre Mutter bereits die ganze Reise über ist. Gudrun kann sich noch genau daran erinnern, wie erleichtert sie war, als sie in der S-Bahnstation in Westberlin ausgestiegen und im Tumult untergegangen sind. Dabei schleicht sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie sind nicht in der letzten Station im Osten ausgestiegen, wie es ihre Fahrkarten zeigen, die die Frau bis heute aufbewahrt hat. 
Auch danach berichtet Gudrun von einer schweren Zeit als Flüchtlinge, doch es wurde besser und heute lebt sie glücklich mit ihrem Mann, nur noch mit Erinnerungen an die DDR und ihren Ängsten dort. Lange wurde sie von diesen Ängsten und dem Druck belastet, doch, dass sie heute mit einem Lächeln im Gesicht ihre Geschichte erzählen kann, zeugt von großer Stärke.

Ein paar Jahre später erfahren, sie, dass sie in dieser Nacht fast ge­schnappt wurden, denn der Polizist, der in ihrer Wohnung lebte wollte schon am Abend das Verschwinden melden, was jedoch von ihrer Magd verhindert wird. Gudrun erinnert sich noch gut an die gutherzige Frau und hätte ihr gerne gedankt.